Navigieren unter der Erde
22.03.2017
Was wird mit den Gebäuden an der Oberfläche passieren, wenn die Tunnelbohrmaschine darunter hinwegfährt? Das errechnen Ingenieure in Echtzeit dank künstlicher Intelligenz.
Wer im Zug sitzt und mit Tempo 200 durch einen Eisenbahntunnel saust, bekommt davon nicht viel mit. Ein paar Sekunden Dunkelheit vor dem Fenster und schon ist der Zug wieder am Tageslicht. Erst bei genauerem Hinsehen offenbart sich die ungeheure Komplexität des Baus großer Tunnel, und es erschließt sich, warum es Jahre dauert, bis sie fertig und befahrbar sind.
Dabei ist der Tunnelbau heute mit dem der ersten Tunnel vor Hunderten von Jahren nicht mehr vergleichbar. „Man muss sich mobile unterirdische Fabriken vorstellen“, beschreibt Prof. Dr. Günther Meschke, Inhaber des Lehrstuhls für Statik und Dynamik an der Fakultät für Bau- und Umweltingenieurwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Diese Tunnelbohrmaschinen können Durchmesser von bis zu 17 Metern haben. Sie graben die Röhre für den entstehenden Tunnel mit einem Schneidrad, transportieren den Aushub ab und befestigen die Tunnelschale auch gleich. Bei optimalen Bedingungen kann sich solch ein Tunnelbauapparat bis zu 25 Meter pro Tag voran bewegen.
Bebauung und Tunnelbau beeinflussen sich
Genau diese Bedingungen aber sind es, um die die Überlegungen der Ingenieure kreisen. Verschiedenste Faktoren müssen berücksichtigt werden: wie fest und steif der Boden ist, wie die Grundwasserverhältnisse sind oder wie sensibel die Bebauung von Streckenabschnitten ist, unter denen der Tunnel verlaufen soll. „Gebäude beeinflussen die Setzungsmulde während des Vortriebs. Der Tunnel beeinflusst wiederum die Gebäude, sodass es eine Wechselwirkung zwischen Vortrieb und oberirdischer Bebauung gibt“, erklärt Günther Meschke.
Oberstes Gebot der Tunnelbauer ist natürlich, mögliche Schäden so gering wie möglich zu halten. In der Planungsphase eines Tunnels wird die städtische Bebauung zunächst erfasst, in Kategorien eingeteilt und ihre Verletzlichkeit abgeschätzt. Abhängig von den Ergebnissen legen die Ingenieure die Trasse des Tunnels fest.
Noch komplexer wird das Ganze, weil es Unschärfen bei der Erfassung der Bodeneigenschaften gibt: Kein Boden ist zum Beispiel durchgehend gleich fest, sondern die Festigkeit variiert. Gleiches gilt für die anderen geotechnischen Parameter. Eine sehr komplexe Angelegenheit also. Daher wird es trotz aller akkuraten Planung noch einmal richtig spannend, während die Maschine den Tunnel tatsächlich baut. Da erst dann die realen Gegebenheiten ganz genau bekannt sind, müssen die Ingenieure ständig Entscheidungen treffen, wie die Maschine darauf reagieren soll.
Die Bochumer Ingenieure haben in ihrem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs (SFB) 837 „Interaktionsmodelle für den maschinellen Tunnelbau“, dessen Sprecher Günther Meschke ist, nun eine Software für den Tunnelbau entwickelt. Sie ermöglicht es dem Ingenieur vor Ort an der Baustelle, in Echtzeit zu simulieren, wie sich der Boden und die darauf befindlichen Bauwerke verhalten werden, wenn er verschiedene Stellgrößen des Tunnelbaus verändert.
Flüssigkeit drückt die Erde zurück
Zu diesen Faktoren gehören vor allem die Geschwindigkeit, mit der die Maschine den Tunnel vorantreibt, und der sogenannte Stütz- und Verpressdruck an zwei verschiedenen Punkten: Dort, wo das Schneidrad den Tunnel gräbt, an der sogenannten Ortsbrust, würde die Erde einbrechen, wenn sie nicht gleichzeitig durch eine Flüssigkeit gestützt würde. Ähnlich wie an der Ortsbrust drückt die Maschine auch Flüssigkeit in den Spalt zwischen der aus Stahlbetonsegmenten gebauten Tunnelröhre und dem Boden. Diese zementgebundene Flüssigkeit härtet später aus.
Ohne diese Ringspaltverpressung würde sich der Boden an der Oberfläche um 20 bis 30 Zentimeter absenken. Der Druck, mit dem die Flüssigkeit in die Spalte gepumpt wird, muss aber genau richtig sein. Ist er zu gering, senkt sich das über dem Tunnel gelegene Gelände ab. Ist er aber zu hoch, kann es sogar vorkommen, dass das Gelände über dem Tunnel in die Höhe gedrückt wird. Auch das mit schlimmen Folgen für die Bebauung.
"Es geht so ein bisschen in Richtung Autopilot." - Günther Meschke
Da die Entscheidung über den Stützdruck nur vor Ort im laufenden Betrieb getroffen werden kann, werden verschiedene Werte ständig gemessen, zum Beispiel das Drehmoment der Bohrmaschine, die Presskräfte, die Position der Maschine, das Grundwasserverhalten und die Setzungen, auch an Häusern oberhalb des Tunnels, die man zum Beispiel an Bewegungen oder Neigungswinkeln feststellen kann. Simulationsmodelle unterstützen dann die Steuerung der Maschine. „Es geht so ein bisschen in Richtung Autopilot“, spitzt Meschke zu. Die Simulation fährt praktisch virtuell mit der Bohrmaschine und aktualisiert die vor dem Bau getroffenen Annahmen mit den gemessenen Daten. Das Modell wird dadurch immer vertrauenswürdiger.
Simulationen dauern stundenlang
„Da liegt natürlich der Gedanke nahe, mit so einem System verschiedene Szenarien durchzuspielen und das Ganze zu optimieren“, beschreibt Günther Meschke. „Dabei gab es bisher aber ein Problem: Solche Simulationen dauern auch auf Großrechnern um die zehn Stunden.“
Die Bochumer Forscher entwickelten eine Möglichkeit, trotzdem in Echtzeit solche Berechnungen der komplexen Zusammenhänge zuverlässig durchführen zu können und vortriebsbedingte Setzungen baubegleitend in Echtzeit zu prognostizieren. Entscheidend dafür war es, die komplexen Simulationsmodelle durch schnelle Ersatzmodelle zu vereinfachen. Das gelang ihnen, indem sie zwei Modellreduktionsverfahren auf Basis künstlicher neuronaler Netze und der Proper Orthogonal Decomposition kombinierten.
„Rekurrente neuronale Netze eignen sich hervorragend, um den Setzungsprozess an wenigen Messpunkten auf Basis der Simulationsergebnisse vorherzusagen“, erklärt Dr. Steffen Freitag, Teilprojektleiter im Sonderforschungsbereich. Das sogenannte Gappy-Proper-Orthogonal-Decomposition-Verfahren nutzen die Ingenieure dann, um daraus das gesamte hochdimensionale Setzungsfeld annäherungsweise zu berechnen.
Eine große Herausforderung waren die Unschärfen der geologischen Parameter, die sie einbeziehen mussten. Denn nur, wenn man auch die Ungenauigkeiten dieser Parameter zum Beispiel durch Intervalle berücksichtigt, erhält man zuverlässige Prognoseergebnisse. Hochdimensionale Echtzeitprognoseverfahren für Intervalle haben die Bochumer Forscher bereits entwickelt. Doch sie wollen die Methoden auch für weitere Unschärfemodelle wie Fuzzy- und stochastische Unschärfemodelle erweitern.
Dank der Echtzeitfähigkeit des Simulationsmodells entsteht nun eine App, die Tunnelbauingenieure vor Ort nutzen können. Die Nutzeroberfläche erlaubt es zum Beispiel, Obergrenzen für die maximal erlaubte Setzung des Geländes einzugeben. „Wenn der Ingenieur an der Baustelle zum Beispiel eingibt, dass die Setzung an der Oberfläche zehn Millimeter nicht überschreiten darf, errechnet die Software, wie die Maschine eingestellt werden muss, damit dieser Wert nicht überschritten wird“, erklärt Steffen Freitag.
Maximalwert für das Risiko eines Schadens
Künftig planen die Forscher, dass der Nutzer auch bestimmte Maximalwerte für Schädigungsrisiken eingeben können soll. „Wenn man etwa eingeben würde, dass die Wahrscheinlichkeit, dass kosmetische Schäden wie Risse an Gebäuden auftreten, höchstens 10-5 betragen darf, könnte die App dann berechnen, mit welchen Einstellungen die Tunnelbohrmaschine dann einen bestimmten Bereich untertunneln darf“, so Günther Meschke.
In Kooperation mit weiteren Forscherinnen und Forschern des SFB 837 wollen Günther Meschke und Steffen Freitag das neuartige Assistenzsystem für den maschinellen Tunnelbau durch weitere Submodelle ergänzen, um noch mehr sicherheits- und risikobasierte Steuerungsziele einbeziehen zu können. Insbesondere die Standsicherheit der Ortsbrust und die durch Pressenkräfte und Bodenbelastung resultierende Auslastung der gebauten Tunnelschale könnten dann durch Echtzeitsimulationen gesteuert werden. „Im Rahmen der Digitalisierung kompletter Bauprozesse eröffnen sich sogar Möglichkeiten, die gesamte Tunnelbaulogistik mit einzubeziehen“, erklären die Forscher.
Ein ganz neuartiger Ansatz liegt in der Integration der im Sekundentakt aufgezeichneten Maschinendaten in die numerischen Simulationsmodelle – Stichwort Big Data. Diese Herausforderung will Günther Meschke gemeinsam mit Prof. Dr. Katharina Morik vom Lehrstuhl für Künstliche Intelligenz der Technischen Universität Dortmund angehen.
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