Geometrische Querschnittsanalyse
Zur Beurteilung der im Kanal an einzelnen Meßstationen aufgenommenen Querschnittsfiguren schlägt Bosseler in [Bosse97] als unverformtes Ausgangssystem einen Kreisring mit vernachlässigbar kleiner Wanddicke t vor. In der Ebene besitzt jeder Punkt P auf dem Kreisumfang zwei Freiheitsgrade, die durch die tangentiale Verschiebung v (im Uhrzeigersinn positiv) und die radiale Verschiebung w (zum Mittelpunkt gerichtet positiv) beschrieben werden (Bild 2.7.4-1) (Bild 2.7.4-2) . Die Darstellung der Verformungsfigur wird nach Abtasten des Rohrumfanges durch eine Vielzahl von Meßpunkten in Polarkoordinaten beschrieben. Winkel- und Längenmessung ergeben Wertepaare (φms,i, rms,i) bzw. (φ, w), welche durch geeignete Verformungsfunktionen anzunähern sind.
Bosseler wählt in [Bosse97] den Ansatz (Formel 2.7.4)
Die Verformungsfigur kann so anhand der Parameter der Einzelanteile systematisch beschrieben werden, wobei der Phasenwinkel φc,j die Abweichung der positiven Maximalverformung des Verformungsanteiles j von der Scheitellage (φc,j = 0°) angibt. Die Amplitude Aj entspricht der Größe der Maximalverformung des Verformungsanteiles j unter dem Winkel φc,j. Sie veranschaulicht im Gegensatz zur Durchmesseränderung ΔD den geometrischen Einfluß sowohl der geraden als auch der ungeraden Verformungsanteile des Reihenansatzes. Durch Vergleich mit der zu erwartenden Meßgenauigkeit kann die Aussagekraft des Reihengliedes abgeschätzt werden. Nach [Bosse97] sind i.a. bereits bei Berücksichtigung der Parameter A2, φc2, A3, jc3 die wesentlichen Verformungsanteile sowie Drehungen der Symmetrieachse erfaßt.
Umgesetzt wurde das dargestellte Verfahren der Zustandserfassung in der Praxis u.a. von Bosseler [Bosse97] nach einer Schadensmeldung in einem Neubaugebiet (27 Haltungen). Dabei wurden erdverlegte PE-HD-Rohre (schwarz, Øm ≈ 270 mm, d = 10,8 mm) mit einer Gesamtlänge von 800 m umfangreichen Messungen unterzogen [Stein95j] .
Die ausgewerteten Meßquerschnitte zeigten in weiten Bereichen vertikalsymmetrische, elliptische Verformungsfiguren . Die gemessenen Ausnahmen zu dieser Regel machen jedoch deutlich, daß ein blindes Vertrauen in diese Gesetzmäßigkeit zu erheblichen Fehleinschätzungen führen kann.
So ergibt sich im durch die Drehung der Symmetrieachsen der Ellipse, d.h. φc,2 ≈ 45°, eine Nullablesung sowohl der vertikalen als auch der horizontalen Durchmesseränderung, obwohl der Querschnitt insgesamt offensichtlich signifikant verformt ist.
Es werden nur geradwellige Verformungsanteile berücksichtigt, die außerdem bei der Messung ausgewählter Durchmesseränderungen (z.B. Vertikalverformung δv) auch nahe der Verformungsnullstellen liegen können.
Die Annahme, daß sich über die Kennwerte der Durchmesseränderung δv und δh immer auch eine Aussage über das Verformungsverhalten des Rohres machen läßt, kann somit zu Irrtümern führen, wenn die Verformungsfigur in der Wirklichkeit nicht mit den Verformungsannahmen der Bemessung, d.h. elliptisches Verhalten mit Symmetrie zur Vertikalachse, übereinstimmt. Bei der Schadensbeurteilung ist mit solchen Fällen generell zu rechnen, da hier meist veränderte, nicht der Bemessung entsprechende Einbaubedingungen und Lasten Ursache der Verformung sind.
Die folgenden Beispiele dienen der Veranschaulichung der nach [Bosse97] gewonnenen Erkenntnisse. Selbstverständlich ist auch eine Überlagerung der angeführten Einflüsse möglich:
- δv allein ist nicht aussagekräftig, da unterschiedliche Verformungsanteile zu den gleichen Meßwerten in vertikaler Richtung führen können .
- δv und δh erfassen ungeradwellige Verformungsanteile nicht und geradwellige ‘schiefe’ Verformungsanteile nicht in ausreichendem Maße .
- δv und δh müssen nicht allein aus Biegeverformungen resultieren, sondern ergeben sich auch aus Schwankungen in der Maßhaltigkeit, Normalkraftverformungen oder mangelnder Zentrierung der Meßachse .
Im vorliegenden Fall heißt dies, daß lediglich die folgende Aussage gilt:
"Das Überschreiten des Bemessungsgrenzwertes der Vertikalverformung läßt auf ein nicht bemessungerechtes Tragverhalten schließen."
Der Umkehrschluß, wonach aus einer unter den Verformungsgrenzwerten liegenden Vertikalverformung auf ein bemessungsgerechtes Tragverhalten zu schließen ist, kann demgegenüber zu den o.a. Fehlinterpretationen führen.
Neben der rein geometrischen Betrachtung kann auch die Berechnung einer Lastverteilung aus der Biegelinie des linear-elastischen Kreisringmodells (s. [Bosse97] ) als ergänzendes Bewertungskriterium zur Beurteilung unrealistisch erscheinender Verformungsfiguren herangezogen werden. Fehlinterpretationen aufgrund von Ablagerungen oder anderen Unregelmäßigkeiten im Inneren des Rohres lassen sich so erkennen.
In (Bild 2.7.4-11) , (Bild 2.7.4-12) , (Bild 2.7.4-13) und (Bild 2.7.4-14) sind sowohl die Verformungsfiguren als auch die theoretische Lastverteilung eines weiteren Meßquerschnitts bei einer maximalen Wellenzahl der Näherung von 2 bzw. 12 dargestellt. Wie zu erkennen ist, nähert die Fourierreihe mit einer Wellenzahl von 2 die Verformungen im Scheitelbereich schon sehr gut an, während die Abweichungen im Sohlenbereich des Rohres noch verhältnismäßig groß sind.
Die entsprechende Lastabschätzung weist eine für das Rohr-Boden-System im Verlauf mögliche und der Größenordnung sinnvolle Verteilung auf. Demgegenüber ist die Näherung des 12-welligen Ansatzes zwar nahezu optimal an die gemessene Querschnittsfigur angepaßt, die dazugehörige 12-wellige Lastverteilung jedoch völlig unrealistisch. Sie entspricht über dem gesamten Rohrumfang wechselnden Druck- und Zugzonen, wie sie im vorliegenden Fall sicherlich nicht auftreten können.
Bei den hauptsächlich in der Sohle liegenden kritischen Verformungsbereichen handelt es sich vielmehr um Falschmessungen, z.B. durch Ablagerungen oder Wasser, die auch anhand der Videoaufzeichnungen bestätigt werden konnten.