Vergleich der Bewertungsmodelle
Ein Vergleich der vorgestellten Bewertungsmodelle mit den Anforderungen an ein Zustandsklassifizierungs- und -bewertungsmodell gemäß ATV-M 149 [ATVM149] unter Berücksichtigung der DIN EN 752-5 [DINEN752-5:1997] ergibt, daß bei allen vorgestellten deutschen Modellen die Bewertung auf der Grundlage der im Rahmen der optischen Inneninspektion (Abschnitt 4.3.2.1) festgestellten und nach ATV-M 143 Teil 2 [ATVM143-2:1999] beschriebenen Schäden erfolgt.
Die Bewertung des baulichen und betrieblichen Zustandes wird durch eine Schadensklassifizierung in Abhängigkeit von der Schadensart und des Schadensausmaßes entweder auf der Grundlage eines Schadenskataloges, durch eine entsprechende Faktorisierung oder durch eine Schadensmatrix realisiert. Das ISYBAU- und das ATV-Modell verweisen an dieser Stelle zusätzlich auf das Einleiten von Sofortmaßnahmen bei eklatanten Schäden, die eine Funktionsfähigkeit der Rohrleitung nicht gewährleisten.
Die eigentliche Zustandsbewertung erfolgt durch die Verknüpfung der Schadensklassifizierung mit relevanten Gefährdungsaspekten. Die Modelle KAPRI, KAIN und ATV berücksichtigen innerhalb ihrer Bewertungssysteme sowohl bauliche und betriebliche, als auch hydraulische und umweltrelevante Aspekte. Bewertungsunterschiede ergeben sich durch die Wichtung der einzelnen Bedingungen sowie durch die Art der Verknüpfung, die bei KAPRI und dem ATV-Modell mathematisch, bei KAIN logisch realisiert wird. Auch das Pforzheimer Modell beinhaltet die Berücksichtigung aller Gefährdungsaspekte, unterscheidet sich jedoch grundlegend in der Vorgehensweise bei der Bewertung von den übrigen Modellen (Abschnitt 4.7.4.5) .
Eine Ausnahme bildet das ISYBAU-Modell, das bei der Zustandsbewertung ausschließlich umweltrelevante Aspekte einbezieht, und somit den Anforderungen der ATV nicht gerecht wird.
Zusätzlich weist das ISYBAU-Modell auch im Bereich der Erstellung von Sanierungsprioritäten Mängel auf. Die Abfolge der Sanierungsmaßnahmen ergibt sich ausschließlich aufgrund der durchgeführten Bewertung entsprechend der zugeordneten Haltungsklassen. Bei allen übrigen Bewertungssystemen ist die manuelle Berücksichtigung weiterer Randbedingungen bei der Festlegung der Sanierungsreihenfolgen möglich.
Ein abschließender Bewertungsvergleich der in ihrem Aufbau ähnlichen Modelle KAPRI, KAIN, ISYBAU und ATV anhand der fünf im ATV-M 149 [ATVM149] angeführten Beispiele ergeben die in (Tabelle 4.7.4.7-1) aufgelisteten Rangfolgen für die Sanierungsdringlichkeiten [ATV95:Seminar] .
Lediglich über die Einstufungen der Beispiele 1 und 2 herrscht Einigkeit, die Einordnungen der Sanierungsdringlichkeiten der anderen Beispiele weichen deutlich voneinander ab. Es zeigt sich anschaulich, daß trotz eines einheitlichen Bewertungsschemas, bedingt durch die unterschiedlichen Schadensklassifizierungen bzw. die differierenden Wichtungen der Gefährdungsaspekte, verschiedene Sanierungsreihenfolgen ermittelt werden. Somit ergibt sich in Zukunft die Notwendigkeit, nicht nur eine Vereinheitlichung des Bewertungsschemas anzustreben, sondern auch eine Anpassung der Schadensklassifizierung sowie der Wichtung der Gefährdungsaspekte zu erreichen, um identische und vergleichbare Ergebnisse ermitteln zu können.
Ein vergleichender Überblick über alle vorgestellten Bewertungsmodelle ist (Tabelle 4.7.4.7-2) zu entnehmen.
ATV A 149 | KAPRI | KAIN | ISYBAU | Pforzheimer Modell |
Stichting − RIONED | |
---|---|---|---|---|---|---|
MODELLCHARAKTER | ||||||
entspricht ATV bzw. DIN EN 752−5 |
JA | JA | JA | NEIN | JA | |
Allgemeine Modellstruktur |
Schadensklassifizierung mit bedingter Berücksichtigung der Randbedingungen |
Zustandsbewertung | Zustandsbewertung | Schadensklassifizierung mit bedingter Berücksichtigung der Randbedingungen |
Zustandsbewertung mit einheitlichem Bewertungsmaßstab für alle einfließenden Faktoren |
Schadensklassifizierung mit bedingter Berücksichtigung der Randbedingungen |
Betrachtungseinheit | Haltung | Haltung | Haltung | Haltung (Schacht, hydraulische Verhältnisse) |
Haltung | Schaden |
Definierte Klassen | 4 Schadensklassen + 1 Sofortmaßnahme 3 Zustandsklassen |
5 Zustandsklassen | 5 Schadensklassen 5 Zustandsklassen |
4 Schadensklassen + 1 Sofortmaßnahme 5 Haltungsklassen 5 Systemklassen |
Prioritätskennzahl ähnlich Schulnoten |
Einordnung in Kategorien |
Modellorientierung | Händische, manuelle Einzelbearbeitung |
Automatisierte EDV−gerechte Bearbeitung |
Automatisierte EDV−gerechte Bearbeitung |
Automatisierte EDV−gerechte Bearbeitung |
Automatisierte EDV−gerechte Bearbeitung |
Händische, manuelle Einzelbearbeitung |
Modellziel | Ermittlung der Sanierungspriorität als absolutes Ergebnis |
Ermittlung der Sanierungspriorität als vergleichendes Ergebnis innerhalb eines Kanalnetzes ⁄ Netzbereiches |
Individuelle Festlegung der Sanierungsprioritäten |
Ermittlung der Sanierungspriorität als absolutes Ergebnis |
Ermittlung der Sanierungspriorität als absolutes Ergebnis |
Einordnung der Schäden in Maßnahmenkategorien |
Anforderung an die Inspektionsergebnisse |
ATV−M 143, Teil 2 | ATV−M 143, Teil 2 |
In Anlehnung an ATV−M 143, Teil 2 |
In Anlehnung an ATV−M 143, Teil 2 |
In Anlehnung an ATV−M 143, Teil 2 |
|
Bearbeitungskriterien für eine Haltung |
Größter Einzelschaden | Größter Einzelschaden, und Summe aller Schäden einer Haltung |
Größter Einzelschaden, Schadensanzahl in Abhängigkeit von der Schadensintensität pro |
Größter Einzelschaden | Alle Einzelschäden, alle Schadensmerkmale |
|
Schadensklassifizierung | Katalog | Faktorisierung | Katalog | Katalog | Schadensmatrix | |
Sofortmaßnahmen | Ja | Nein | Nein | Ja | Nein | |
Integrierte Gefährdungsaspekte |
Bedingt hydraulische, umweltrelevante |
Bauliche ⁄ betriebliche, hydraulische, umweltrelevante |
Bauliche ⁄ betriebliche, hydraulische, umweltrelevante |
Umweltrelevante | Bauliche ⁄ betriebliche, hydraulische, umweltrelevante |
Wasserdichtheit, Zustand der Rohrwandung, Abflußhindernis |
Verknüpfung | Mathematisch | Mathematisch | Logisch | Mathematisch | Mathematisch | |
Subjektive Eingriffsmöglichkeiten |
Im Bereich der zu vergebenden Zustandspunkte |
Externe Einflüsse bei Prioritätensetzung |
Im Bereich der Zuordnung der Schadensklassen u. Prioritätenermittlung |
Nicht vorhanden | Externe Einflüsse bei Prioritätensetzung |
Äußere Bewertungsziffer |
Bearbeitungsergebnis | Zuordnung in Zustandsklassen ZK 1 − ZK 3, Sanierungspriorität der Haltung |
Zuordnung in Zustandsklassen ZK 1 − ZK 5 aufgrund einer kanalspezifischen Eichung |
Zuordnung in Zustandsklassen ZK 1 − ZK 5 |
Zuordnung in Haltungsklassen HK 1 − HK 3, Systemklassen SK 1 −SK 5 als arithmetisches Mittel |
Prioritätskennzahl in Form von Noten 1 bis 6, Art der Sanierung (Punkt o. Haltungssanierung) |
Einteilung der Schäden in Kategorien |
Eine ähnliche Vorgehensweise bei der Zustandsbewertung wie in Deutschland wird in den Niederlanden praktiziert. Nach der Klassifizierung der Schäden anhand eines Schadenskatalogs und der subjektiven Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse über sogenannte Bewertungsfaktoren, erfolgt die abschließende Einordnung in verschiedene Handlungskategorien. Zusätzliche Überlegungen gehen jedoch dahin, Verhaltensmodelle für verschiedene Schadensarten in Abhängigkeit der örtlichen Randbedingungen zur Ermittlung der Restlebensdauer von Haltungen zu ermitteln.
Auch in Deutschland werden neuerdings diese Ansätze verfolgt [Stein04] [Truji04]. Diesbezügliche Untersuchungen wurden durch die Problematik angestoßen, dass durch die gängigen Modelle zur Zustandsbewertung (Abschnitt 4.7.4.1) (Abschnitt 4.7.4.2) (Abschnitt 4.7.4.3) (Abschnitt 4.7.4.4) (Abschnitt 4.7.4.5) (Abschnitt 4.7.4.6) lediglich der Haltungszustand zum Inspektionszeitpunkt abgebildet wird, obgleich dieser jedoch aufgrund der bestehenden Alterungsprozesse von Entwässerungssystemen eine veränderliche Größe über die Zeit darstellt. Neben einer Bewertung des baulichen Istzustands sind somit belastbare Aussagen zur zukünftigen Netzzustandsentwicklung erforderlich, um den Sanierungs- und Finanzbedarf im Rahmen langfristiger Netzanalysen realistisch einzuschätzen.
Zur Realisierung wird im ganzheitlichen Bewertungsmodell nach STATUS-Kanal [Stein05] ein Prognoseverfahren eingesetzt, welches auf einer mathematischen Abbildung der örtlichen Alterungsprozesse basiert und nach signifikanten leitungsspezifischen Merkmalen bzw. Merkmalskombinationen differenziert werden kann. Die bisher gebräuchliche, prioritätsorientierte Zustandsklassifizierung, die zur vordringlichen Behebung schwerer Schäden dient, wird dabei durch eine substanzwertorientierte Klassifizierung ergänzt, die eine Abschätzung des notwendigen Sanierungsumfangs und der erreichbaren Restlebensdauer der Haltungen erlaubt. Durch eine parallele Prognose beider Bewertungsgrößen wird eine wichtige Entscheidungsgrundlage für Sanierungs- und Inspektionsplanungen gegeben (Abschnitt 4.2) (Abschnitt 5.7.1).
Abschließend ist zu bedenken, daß bei der Zustandsbewertung zur Zeit nur Einzel- bzw. Haltungsschäden und damit verbunden auch nur relativ punktförmige Abwasserexfiltrationen bzw. Grundwasserinfiltrationen bewertet werden. Generell vernachlässigt werden in diesem Zusammenhang mögliche Auswirkungen der Sanierung auf Hydrogeologie, Wasserwirtschaft, Bebauung und Bewuchs im jeweiligen Einzugsgebiet durch die Verhinderung der Exfiltration von Abwasser und insbesondere der Infiltration von Grundwasser [Stein96e] . So ist beispielsweise in Gebieten, in denen undichte Abwasserleitungen und -kanäle auch als Dränageleitungen wirken und den Grundwasserspiegel über einen langen Zeitraum abgesenkt haben, nach Durchführung einer Kanalsanierung mit großflächiger Grundwasserspiegelanhebung zu rechnen. Folgen können z.B. Schäden an benachbarten Leitungen und Bebauungen durch - je nach geologischer Situation - Quell- oder Setzungserscheinungen im Boden, Schädigungen am Bewuchs durch Wassersättigung der Wurzelzone sowie überflutete Kellerräume sein.